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Wie ist das, zum ersten Mal auf weite Wanderschaft zu gehen? Die US-Amerikanerin Christine Reed ist allein mit virtuellem Wissen aus dem Internet gerüstet auf den 3500 Kilometer langen Appalachian Trail in den USA gestartet. Eine Entscheidung, die ihr Leben von Grund auf verändern sollte.
Hier erzählt Christine ihre bewegende Geschichte – und gibt fünf wichtige Tipps für alle, die mit dem Weitwandern beginnen.
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»Ich arbeitete als Sachbearbeiterin in einer Krankenversicherung«, erzählt die heute 31-Jährige. Als sie 2015 zum Startpunkt des 3500 Kilometer langen Appalachian Trail (AT) aufbricht, entspricht sie so gar nicht dem Stereotyp einer ›Thru-Hikerin‹, wie Fernwanderinnen in den USA genannt werden. Sie ist keine Person mit durchtrainierten Waden und sonnengebräunter Haut, mit Rucksack und abgetragener Outdoor-Klamotten, gezeichnet von der Patina unzähliger Wegstunden durch Staub, Schlamm, Wälder und Wüsten. »Mein Leben bis dahin entsprach eher dem einer trägen Durchschnittsamerikanerin«, meint Christine selbstkritisch.
Ist Weitwandern etwas für eine solche Anfängerin?
In der Highschool ist Christine in der Fitness-Class schon mit den leichtesten Gewichten überfordert, entwickelt Essstörungen. In ihrer College-Zeit jobbt sie nebenbei in Restaurants. Nach Dienstschluss wird gefeiert. Parties. Alkohol. Zu viel von beidem. Kurze Fluchten aus einem Leben ohne Höhen und Tiefen. Das ändert sich auch nicht, als Christine ihre Arbeit als Sachbearbeiterin bei einer Krankenversicherung antritt.
Eines Tages erfährt Christine, dass ihre Mutter Krebs hat. »Sie war stark übergewichtig, bewegte sich viel zu wenig«, erklärt die Weitwanderin. »Ich dachte, wenn ich nicht aufpasse, geht es mir genauso.« Beim Surfen im Internet stößt sie zufällig auf Foren von Outdoor-Freaks. »Die diskutierten, wie man am besten Spaghetti-Sauce dehydriert und eigene Trockennahrung herstellt. Dinge, über die ich zuvor noch nie im Leben nachgedacht hatte. Es faszinierte mich, wie detailliert sich diese Community mit ihren Vorbereitungen beschäftigte.«
Virtuell taucht Christine in die Welt des Weitwanderns ein – und stößt auf den Appalachian Trail, einen der ältesten angelegten Fernwanderwege Amerikas. Allmählich dämmert ihr, das könnte ein Ausweg aus ihrer latenten Unzufriedenheit sein.
Akribisch recherchiert sie ein Jahr lang im Internet, googelt x-mal Tipps zum Weitwandern für Anfänger und Fortgeschrittene, schnürt Essenspakete für sechs Monate, die sie an Versorgungspunkte entlang des Trails verschickt. Ein Praktikum bei der Appalachian Trail Conservacy zur Instandhaltung der Wege nutzt sie, um in die Thru-Hike-Community hineinzuschnuppern.
Dann ist es so weit. Nach 16 Stunden Fahrt mit dem Greyhound Bus erreicht Christine den Start des Appalachian Trail. Sie übernachtet in einer einfachen Schutzhütte. Sie fühlt sich krank und kaputt. Lampenfieber? Das mit den Bären hat Christine verdrängt. Freunde, denen sie von ihrem Vorhaben erzählte, hatten sie gefragt, ob sie ein Gewehr mitnehmen würde. »Ich war ganz gut darin, das abzutun und die Starke zu spielen«, gesteht sie. Aber jetzt, wo es losgeht, ist ihr doch mulmig zumute.
»Körperlich war ich gar nicht gut vorbereitet«, gibt Christine zu. »Es hieß immer, geh’ einfach los, die Form kommt von selbst.« Den vollgepackten Rucksack hat sie bis dahin nie auch nur einen kompletten Tag lang getragen. »Puh, das war viel, viel schwerer als gedacht«, erinnert sie sich. Sie schafft anfangs gerade mal zehn Kilometer pro Tag.
Der körperliche Kampf ist nicht der einzige, den Christine ausficht. Die Monate zuvor hat sie im Yosemite Valley gejobbt – an einer der landschaftlich faszinierendsten Orte der Welt. Verglichen damit sind die mittelgebirgsartig waldigen Wellen der Appalachen eine Ernüchterung. Ein Naturwunder hat sie sich anders vorgestellt.
»Die Morgenstunden waren kalt, tagsüber wurde es schwül und heiß«, blickt Christine zurück. „Das brachte mich auch mental in einen Bereich weit außerhalb meiner Komfortzone.« Trotzdem fühlt sie eine enge Beziehung zur Natur wachsen: »Da keimte eine Ahnung, wie ich vielleicht vor Tausenden von Jahren gelebt hätte. Wofür unsere Körper bestimmt sind.«
Nach drei bis vier Wochen fühlt sich Christine fitter, selbstbewusster. Auch im Kopf. Gehen. Essen. Schlafen. »Du musst dir keine Gedanken machen, was Du isst, was Du anziehst. Du hast eh keine Wahl. In unserer Überflussgesellschaft müssen wir ständig Hunderte von Möglichkeiten abwägen. Die Einfachheit der Trail-Tage heilt diese Entscheidungsmüdigkeit.« Mehr als im Rucksack ist, gibt’s nicht. Ganz einfach. »Und auch an das stinkende T-Shirt habe ich mich schnell gewöhnt.«
Diese Simplizität hilft ihr, die mentalen Qualitäten des Wanderns zu entdecken. »Ich hatte einige Zeit vor dem Start einen Meditationskurs besucht«, verrät Christine. »Auf dem Trail spürte ich sehr schnell: Wandern ist wie Meditieren.« Nichts lenkt sie ab. »Du erforschst nicht nur die Landschaft. Du fängst an, Dich selbst zu erforschen.« Keine elektronischen Wirklichkeitsfluchten. Kein Social Media, kein TV.
Täglich trifft Christine andere Weitwanderer:innen. Abends scharen sich 40 bis 50 Hiker um die Schutzhütten. Dennoch hat ihr Marsch phasenweise etwas Eremitenhaftes. Sie sagt: »Tatsächlich hatte ich mir so etwas wie eine spirituelle Erkenntnis erwartet.« Doch die bleibt aus. Trotzdem ist längst ein persönlicher Wandel in ihr im Gange. Dann erfährt Christine, dass ihre Mutter gestorben ist. Ihre Tage auf dem Trail sind gefüllt von Trauer. Christine spürt, wie wertvoll es ist, dafür Zeit zu haben.
Sie denkt währenddessen viel darüber nach, »wer ich sein möchte«. Dabei helfen ihr auch andere Weitwanderer:innen. Die Community der Thru-Hiker wird für Christine zu einer Gemeinschaft, die etwas Größeres verbindet: »Wir wollen etwas in uns selbst finden.« Bei dem einen hat das mit der Vergangenheit zu tun, der andere sucht Klarheit über seine Zukunft.
»Wahrscheinlich machen sich kaum zehn Prozent der Menschen über so etwas intensiv Gedanken«, schätzt Christine. »Stell Dir vor, plötzlich lebt jeder um Dich herum bewusst. Wie großartig ist es, von Leuten umgeben zu sein, die alle auf dieser menschlichen Mission sind!«
Nach 70 Tagen und 650 Meilen bricht Christine ihre Wanderung auf dem Appalachian Trail ab. Zu den Trauerfeierlichkeiten für ihre Mutter will sie zu Hause sein. Sie hat nur etwa ein Drittel des Weges geschafft. Gescheitert fühlt sie sich trotzdem nicht.
Körperlich wie mental hat Christine erfahren, wie wichtig die Frage des richtigen Inputs und Outputs für ein ausbalanciertes Leben ist. »Der Zusammenhang zwischen dem, was ich esse, und dem, wie ich mich fühle, existierte für mich zuvor schlichtweg nicht.« Das Gleiche gilt für den Kopf. »Ich habe auf dem Appalachian Trail definitiv das Glück gefunden! Das hat viel mit der Einfachheit des Lebens auf den Weitwanderwegen zu tun«, meint Christine.
»Ich habe realisiert, wie albern und absurd all das Zeug ist, mit dem wir uns sonst umgeben.« Gleichzeitig ist ihr klar: Es gibt sicher auch andere Möglichkeiten, zu dieser Erkenntnis zu gelangen. »Die Wanderkultur ist keine allein selig machende Religion. Was Du auch tust, wichtig ist, dass Du Dich von den Ablenkungen befreist und deinem Gehirn erlaubst runterzufahren.«
In ihren Beruf als Sachbearbeiterin bei der Versicherung ist Christine nach dem Appalachian Trail nicht mehr zurückgekehrt. Übergangsweise arbeitete sie in einem Supermarkt und Biomarkt. Mehrere Jahre lang war ihr Van ihr Zuhause. Heute lebt sie mit ihrem Partner in Denver/Colorado und schreibt Bücher übers Wandern und tritt in Wander-Podcasts auf. Längst ist sie selbst eine ›Outdoor-Person‹ wie jene Thru-Hiker, die Christine zu ihrer Wanderung auf dem AT inspiriert haben.
Weitwanderwege faszinieren sie nach wie vor. Als Nächstes plant sie den fast 800 Kilometer langen Colorado Trail von Denver nach Durango zu laufen – und irgendwann wohl auch den 3000 Kilometer langen Te Araroa Trail in Neuseeland.